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192 selbstbewusste Zentimeter

192 selbstbewusste Zentimeter

Ein Tag mit Merls Prinzessin Julia I.: Ihr Gardemaß lässt selbst stattliche Offiziere staunen, ihre Singstimme bringt das Publikum zum Schmelzen

Meckenheim-Merl. Sonntag, 9.30 Uhr. Eine heisere Prinzessin öffnet die Tür zum Haus Schlehenweg 16. Ihre 1,92 Meter wirken um diese Zeit irgendwie weniger imposant. Die Nacht war kurz. "Um 3 Uhr war ich im Bett. Davor um 2 Uhr." Der erste Griff der 22-Jährigen gilt dem Radio, das gleich losdudelt. Julia Reinhard betont: "Ohne Musik geht gar nix."

Mit dem ersten Takt kommt Bewegung in die Sache. Hund Nando verlangt Streicheleinheiten. Und Julia Reinhards Mutter Maria greift zum Föhn und zaubert aus vom Schlaf zerdrückten Zotteln eine königliche Frisur. Das geht nur bei Narren, dass sich die bürgerliche Anna beim Schminken mit ihrer Hoheit Julia I. den Spiegel teilt. Die Gymnasiastin findet das hohe Amt ihrer Schwester toll. Nur wenn der Abend zu lang wird, knickt die Elfjährige ein.

Die Frisur von Julia sitzt, die Schminke auch. Der Bademantel fliegt in die Ecke. Inzwischen ist Adjutantin Monika Sell eingetroffen. Sie hilft beim Überstreifen des Kleides. Ihrer Majestät Vater Paul, gebürtiger Kölner, ist ebenfalls Adjutant. Er verdreht den Blick zur Wohnzimmerdecke: "Vorsicht. Die Frisur!" Schließlich versucht die 1,60 Meter kleine Sell, der 1,92 Meter großen Julia die Orden überzustreifen. Die hat nun zwei Kilo Gewicht am Hals.

In Merl Prinzessin zu sein, ist von der Zahl der Termine und finanziell überschaubar. Julia I. setzt nicht auf ein teures Kleid, sondern auf ihre Singstimme, die herausragend ist. "450 Euro kostete das Kleid. 150 Euro die Schuhe." Die 1. Karnevalsgemeinschaft Merl 2000 übernimmt einen Teil, stellt Wagen und Kamelle, die Prinzessin leistet einen Obolus und geht kötten, sammelt also Spenden, erzählt die Vereinsvorsitzende Heike Berreßem.

Alle Mitglieder der Familie Reinhard sind inzwischen in ihre Vereinskluft geschlüpft. Ein Konvoi aus drei Fahrzeugen setzt sich um 10.30 Uhr in Bewegung. Es geht nach Bad Godesberg zum Prinzenschießen. Julia I. hat keinen Fahrzeug-Sponsor wie andere Prinzenpaare. Papas Auto reicht auch. 11 Uhr. Auf dem Schützenplatz an der Friesdorfer Straße treffen die Merler das Wormersdorfer Prinzenpaar und das Meckenheimer Kinderprinzenpaar. AKP-Chef Ralf Hünten muss schlucken. Obwohl er mit 1,87 Metern nicht gerade klein ist, muss er zu Julia aufblicken - ein seltenes Gefühl für einen statsen Gardeoffizier.

Im Schießstand wird das Zepter verstaut, die Brille gezückt. "Sonst sehe ich gar nichts." Die Merlerin zielt. Das Ergebnis zählt für sie nicht. "Wir wollen nicht gewinnen, wir wollen feiern." Zum Beweis singt sie spontan ein Duett mit Prinz Leo I. aus Wormersdorf. Ihre CD mit dem eigenen Prinzessinnenlied, arrangiert von Matthias Lesch, ist Programm: "'jo do weiß et sicher wo et hin jehürt'". Ihr Herz gehört in den Westerwald, wohin sie der Liebe zu ihrem Freund wegen gezogen ist. "Meine Heimat bleibt aber Merl", sagt Julia I.

Sie habe den 1,98 Meter großen Mann übers Internet unter "www.lange-singles.de" kennen gelernt, erzählt sie. So viele Zentimeter können auch einschränken. "Wie kommt sich ein kleinerer Prinz vor, neben mir zu stehen?" gibt sie zu bedenken. Dass sie allein regiert, hat noch einen Grund. "Ich habe meine eigenen Vorstellungen", erklärt die 22-Jährige. Zum Beispiel vom richtigen Zeitpunkt fürs Nachhausegehen.

Als sie Prinzessin wurde, kannte sie ihren Freund noch nicht. Für den würde sie Kompromisse schließen, sagt Julia I., aber nicht für einen Fremden. Einer Prinzessin an der Seite eines Prinzen kommt zudem eine untergeordnete Rolle zu, womit Julia I. ein Problem hätte. Inzwischen ist es 13 Uhr.

Beim Rheinbacher Gardetreffen versammeln sich zwei Dutzend Tollitäten auf der Bühne. 30 Minuten später stöhnt Julia I.: "Die Luft war furchtbar." Jetzt geht es erstmal zu McDonald's. "Sie muss was essen", sorgt sich die Mutter. Kaum ist der letzte Bissen geschluckt, geht es weiter nach Lüftelberg, diesmal als Zaungast. Anfeuern ist Ehrensache, wenn die eigenen Mädels von der 1. Karnevalsgemeinschaft Merl die Pompons schwingen.

Zum Schluss geht es nach Rupperath. Der Saal ist proppevoll. "Wir wollen dich singen hören", fordert das Publikum in bester Fußballstadion-Manier. Kaum hat Julias Stimme das richtige Timbre, da stehen ihre neuen Fans auf und fordern eine Zugabe. "Das war super", freut sich die Prinzessin hinterher. Auch darüber, dass sie heute mal früher ins Bett kommt. Es ist 23 Uhr, als sie in die Falle fällt.